Alberto Alessi – italienisches Design mit Eleganz, Humor und ein bisschen Anarchismus - séduction Magazin Schweiz
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Alberto Alessi – italienisches Design mit Eleganz, Humor und ein bisschen Anarchismus

Von Redaktion 17. April 2023
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Eleganz, Humor und immer eine Spur Anarchismus: Alessi steht exemplarisch für italienisches Design. In diesem Jahr feiert das Unternehmen seinen hundertsten Geburtstag. Firmenchef Alberto Alessi über die vier Parameter des Erfolgs, grandiose Fiaskos und die Macht der Emotion.

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Signor Alessi, Sie führen Alessi, eine der führenden Designfirmen Italiens. Was unterscheidet Alessi von anderen Unternehmen in diesem Bereich?

Der Hauptunterschied besteht darin, dass wir Design auf eine andere Weise betrachten als die Unternehmen, die für die Masse produzieren. Für sie ist Design nur eines von vielen verschiedenen Werkzeugen. Für uns ist Design eine kreative Disziplin, die aus einer Matrix künstlerischer und poetischer Natur entsteht. Das Design steht bei uns immer an der Spitze. Ich nenne es auch „la fabricca dei sogni“: die Fabrik der Träume.

Das Unternehmen wurde 1921 von Ihrem Großvater gegründet. Coronabedingt haben Sie den Jahrestag um ein Jahr verschoben – und feiern 2022 Hundertjähriges. Wie hat sich Alessi seit seiner Gründung verändert

Als wir 1921 anfingen, war mein Großvater hauptsächlich damit beschäftigt, hochwertige Küchenprodukte herzustellen. Mit Ästhetik hatte er nicht viel am Hut. Das begann erst mit meinem Vater Carlo, der in den 1930er-Jahren auch als Designer arbeitete. Nach dem Krieg, in den 1950er-Jahren, fingen wir an, mit Designern von außen zu arbeiten. Ich kam in den 1970er-Jahren dazu und vergrößerte die Zahl der Designer, mit denen wir zusammenarbeiteten – mehr als 300 sind es bis heute.

Zu Ihrem Portfolio gehören Großmeister wie Ettore Sottsass und Achille Castiglioni ebenso wie internationale Stars der Branche, etwa Jasper Morrison und Patricia Urquiola. Wer schlägt neue Produkte vor – Sie oder die Designer?

Mal so, mal so.

Aber Sie entscheiden, was produziert wird. Nach welchen Kriterien?

Es gibt zwei Wege. Der eine ist der klassische. Das ist ein Werkzeug, das wir scherzhaft „die Formel zum Erfolg“ nennen. Es basiert auf vier Parametern und dient dazu, die Reaktion des Endkunden zu verstehen. Aber ich lasse mich nicht von dieser Formel leiten. Wenn mir das Projekt gefällt, ziehe ich es durch. Denn das ist der zweite Weg: meine Intuition. Und die hat mich in den letzten 53 Jahren Arbeit nur selten getäuscht.

Manche würden Ihnen da widersprechen: Zum Beispiel bei der Zitronenpresse von Philippe Starck, der „Juicy Salif“, die eher tröpfelt als entsaftet.  Ein Flop. Das 25. Jubiläum stellten Sie selbstironisch unter das Motto „25 Jahre ohne eine Zitrone auszupressen“.

Diese Zitronenpresse war wirklich hart an der Grenze. Aber wir sind mit ihr auf der richtigen Seite geblieben. Und sie ist, entgegen aller Meinungen, kein Flop, sondern ein großer Erfolg. Denn Funktion ist nur einer von vier Parametern unserer Erfolgsformel.

Und die anderen?

Der zweite ist Schönheit, der dritte die Kommunikation. Also die Frage: Wie wird dieser neue Gegenstand von Kunden genutzt, um anderen Menschen etwas mitzuteilen? Wie emotional ist er? Und da punktet sie eindeutig. Der letzte Parameter ist der Preis.

Glauben Sie, dass die „Juicy Salif“ auf dem Markt bestehen würde, würde sie heute lanciert?

Eher nicht. Es war eines der ersten, wenn nicht sogar das erste Produkt, das so grenzüberschreitend war, dass es völlig neues Terrain betreten hat. Es passte in diese hedonistische Zeit. Die Zitronenpresse kam ja in den Achtzigern raus. Heute gibt es zu viele andere Produkte, die dasselbe zu erreichen versuchen.

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Wie hat sich das Design in den letzten Jahren entwickelt?

Als ich in den Siebzigerjahren bei Alessi anfing, waren wir gerade in der Endphase des „Bel Design Italiano“ Ein bisschen kalt, aber sehr elegant. In den Achtzigern folgte die Postmoderne, eine erfolgreiche Strömung, zu der auch wir beigetragen haben. Die Neunzigerjahre waren die Zeit des skurrilen Designs. Alles war sehr cartoonhaft. Vieles stammte von jungen italienischen Designern. Ab den 2000ern fällt es mir schwer, das Design einzuordnen. Es wurde auf einmal sehr eklektisch.

Wie beurteilen Sie das Zusammenspiel von Form und Funktion?

Form und Funktion stehen in keinem Widerspruch zueinander. Aber Menschen, die zu sehr an die Funktion glauben, sind mit dieser Denkweise nicht einverstanden. Wären wir Tiere, dann wäre Funktion genug. Mag sein. Wobei ich bei manchen Tieren meine Zweifel hätte. Aber da wir Menschen sind, achten wir nie nur auf die Funktion. Denken Sie nur daran, was passiert, wenn Sie Schuhe für den Winter kaufen. Widerstandsfähig und warm sollten sie sein. Und wenn wir im Laden sind? Geben wir wieder viel mehr aus, als wir erwartet hatten. Das sind Kaufentscheidungen, die allein auf Emotionen oder Ästhetik basieren.

Wenn Sie das Design heute mit dem der 1980er- Jahre vergleichen: Hat es seine spielerische Leichtigkeit verloren?

Ich denke schon. Es ist weniger spaßig, weniger interessant. In gewisser Weise auch weniger risikoreich.

Woran liegt das?

Ein Grund dafür ist sicher der Einfluss des Marketings. Ein anderer ist wahrscheinlich der Mangel an Talent. Es gibt einfach nicht mehr so viele gute Designer.

Heute hat man außerdem das Gefühl: Jeder Designer entwirft für jedes Unternehmen. Alles wird austauschbarer.

Ja, mir gefällt das auch nicht, aber man muss es so nehmen, wie es ist. Als ich vor vielen Jahren anfing, war Design eine sehr elitäre Sache. Erst in den 1980er-Jahren wurde es populärer. Und in den 1990er- Jahren immer beliebter. Heute hat jedes Unternehmen das Recht, einen Designer zu haben. Die durchschnittliche Qualität der industriellen Produktion hat sich im Vergleich zu damals, als ich anfing, auch deutlich verbessert. Nur die Produkte an sich, die sind etwas durchschnittlicher geworden.

Wie schwierig ist es, eine Handschrift zu etablieren, wenn man mit so vielen Designern zusammenarbeitet?

Es ist alles eine Frage der Führung. Ich sehe mich eher als Verleger denn als Unternehmer. Ein Verleger ist offen für alle Arten von Beiträgen zu seinem Katalog. Aber es muss ein wirklich guter Beitrag sein. Das ist mein Ansatz.

Glauben Sie, dass Ihnen die Unabhängigkeit dabei geholfen hat, auch kuriosere Produkte zu veröffentlichen?

Ich konnte nur tun, was ich tat, weil wir ein Familienunternehmen sind.

Welche Produkte waren in der Rückschau am erfolgreichsten?

Eines der seit 30 Jahren sehr erfolgreichen Produkte ist der Wasserkocher von Michael Graves. Den haben wir seit 1985 im Sortiment. Er ist in allen Parametern sehr gut platziert. Oder der Korkenzieher von Alessandro Mendini. Und, ob Sie es glauben oder nicht, auch die Zitronenpresse von Philippe Starck.

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Und welche haben sich nicht bewährt?

Puh, wo fange ich da an? Eines meiner Lieblingsfiaskos ist ein Objekt des Schweizer Architekten Peter Zumthor. Er hat meiner Meinung nach die beste Pfeffermühle entworfen, die wir je hergestellt haben. Aber die Kunden haben sie nicht verstanden. Oder nicht gemocht. Ich weiß es nicht.

Haben Sie zu ergründen versucht, warum?

Manchmal merken wir, dass es funktionale Gründe sind. Oder preisliche. Bei Architekten ist es oftmals so, dass sie keine einfache Sprache sprechen. Das gefällt mir persönlich außerordentlich, aber eine einfache Sprache hilft dem Durchschnittskunden, ein Produkt besser zu verstehen. Anspruchsvolle Produkte sind schwieriger zu verkaufen.

Sind Architekten am Ende die besseren Designer?

Ich glaube schon. Aber das hat auch damit zu tun, dass die Geschichte des italienischen Designs so eng mit der Architektur verknüpft ist. Alle guten Projekte in unserer Geschichte stammen fast ausnahmslos von Architekten. Ich glaube, Architekten haben im Vergleich zu Industriedesignern ein breiteres Wissen und eine tiefere Sensibilität für die Dinge. Das ist natürlich keine absolute Regel, aber schon deutlich erkennbar.

Zum 100. Geburtstag haben Sie das neue Jahrhundert mit einer Kollektion von Virgil Abloh eingeleitet. Im Gegensatz zu den meisten anderen Firmen haben aber nicht Sie bei ihm angeklopft, sondern er bei Ihnen. Angeblich waren Sie anfangs nicht sehr angetan davon.

Er kontaktierte mich, weil er sich mit ernsthaftem Industriedesign herausfordern wollte. Ich fand das keine gute Idee.

Warum?

Ich bin kein Freund davon, mit Modedesignern zusammenzuarbeiten. Die denken ganz anders. Ein Modedesigner macht Hunderte Projekte jedes Jahr. Wenn ein Industriedesigner einen Stuhl entwirft, dann entwirft er den einzigen Stuhl. Wir hatten in der Vergangenheit schon mit anderen Modedesignern zusammengearbeitet, das war immer eine Katastrophe.

Trotzdem haben Sie sich darauf eingelassen. Oder waren Sie von seinen Ideen überzeugt? Unter anderem entwarf er ein Besteckset, das Sie jetzt produzieren.

Ich war überrascht, aber nicht wirklich überzeugt. Was grundsätzlich keine schlechte Sache ist. Denn wenn ich ein Produkt zu 100 Prozent in Ordnung finde, bin ich immer etwas unglücklich damit. Nur wenn ich auf Probleme stoße, entsteht womöglich gerade etwas wirklich Neues.

Und bei Abloh gab es Probleme?

Wissen Sie, ich bin es gewohnt, mit Industriedesignern zu arbeiten, die sehr elegante Entwürfe liefern, vor allem bei Besteck. Besteck ist schwierig zu entwerfen. So ein kleines Objekt, aber so voller Details! Der Ansatz von Abloh war ganz anders. Sehr rustikal und irgendwie, wie soll ich sagen – neo-primitiv.

Und das gefiel Ihnen?

Er sah Alessi als eine Art Werkstatt an. Sein Konzept war es, die grundlegenden Werkzeuge einer Werkstatt mit Haushaltswaren zu identifizieren. Ich versuchte also, seiner Intuition zu folgen, und tatsächlich bin ich aus heutiger Sicht sehr zufrieden. Denn Virgil Abloh hat eine ganz andere Art, die Dinge zu betrachten. Das habe ich erst später gemerkt. Leider ist er viel zu früh gestorben. Ich glaube, wir hätten noch lange zusammenarbeiten können.

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Was wünschen Sie sich für die nächsten Jahre für Alessi?

Ich hoffe, dass es noch ein wenig Platz für Unternehmen wie Alessi geben wird, die mehr oder weniger die gleiche Art von Produkten herstellen werden. Die ein bisschen Poesie, ein bisschen Kunst in die Produktion von Produkten einbringen werden.

Sie sind jetzt über ein halbes Jahrhundert in der Firma. Haben ein wunderschönes Haus, einen eigenen Weinberg. Sie stellen Ihren eigenen Wein her. Denken Sie manchmal an Ruhestand?

Ich muss gestehen: jede zweite Woche.

Aber?

Dann würde ich ja all die tollen Dinge verpassen, die mich in den Wochen dazwischen erwarten.